Für eine überlegte Dezentralisierung

In der Debatte über die Gestaltung eines qualitativen Wachstums und einer nachhaltigen Lebensqualität muss der Aspekt der Dezentralisierung besonders im Mittelpunkt stehen. Der industrielle Aufschwung des Landes war auch geprägt von Bevölkerungsverschiebungen. Viele Luxemburger, besonders aus dem Norden des Landes, siedelten sich in der Minette-Region, in der direkten Nähe ihrer Arbeitsplätze in den Eisenerzminen und Stahlwerken neu an. Ähnlich verhielt es sich mit dem Goodyear-Werk in Colmar-Berg. Viele Arbeiter und Angestellte ließen sich in den Nachbargemeinden nieder.

Heute ist die Nähe zum Arbeitsplatz für die meisten von uns nicht mehr gegeben. Die massiven Staus und die Überbelastung des öffentlichen Transports im Berufsverkehr belegen das Tag für Tag. Der Verlust an Lebensqualität und an Zeit für die Familie ist enorm. Um unser Mobilitätsproblem zu lösen, wird es wesentlich sein, mit der jahrzehntealten Logik zu brechen, dass Finanz- und Versicherungsunternehmen, die Dienstleistungsbranche und Verwaltungen sich vorwiegend in Luxemburg-Stadt und deren Randgemeinden ansiedeln. Dabei sind geeignete Flächen mit guten Verkehrsanschlüssen auch in den anderen Landesregionen vorhanden.

Neue landesplanerische Logik

Luxemburg braucht eine überlegte Dezentralisierung. In dieser Hinsicht wurde bereits unter dem Impuls von CSV-Politikern viel umgesetzt. Das Musterbeispiel ist Esch-Belval mit der Ansiedlung der „Uni Lëtzebuerg“. Die Universität zog und zieht weitere Forschungsaktivitäten an, denen wiederum innovative Unternehmen folgen, die neue Produkte entwickeln und vermarkten.

So ändert sich das Bild des Südens: Eine Region, die unter einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt, hauptsächlich von Industriezonen geprägt ist, entwickelt sich fort zu einer Region, in der die klassische Industrie weiter ihren angestammten Platz hat, aber auch innovative Unternehmen und Start-ups mit neuen Produkten und Dienstleistungen auf den Markt drängen.

Diese Politik der landesplanerischen Dekonzentration muss entschlossen fortgesetzt werden. Wohnen, Arbeit und Freizeit müssen wieder näher zueinander geführt werden, so wie es bereits im Integrativen Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept (IVL) angedacht wurde. Es braucht die Aufwertung der regionalen Zentren, Echternach, Grevenmacher, Remich, Clerf, Ulflingen, Wiltz, der Nordstad, in den Kantonen Redingen, Capellen und Mersch (…) ebenso wie die weitere Aufwertung der Minette-Region. Neben Handwerks- und Handelsbetrieben sowie Industrieunternehmen muss in deren Aktivitätszonen durch eine durchdachte Politik die Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen, die sich zurzeit in und um Luxemburg-Stadt ballen, gefördert werden. Auch öffentliche Verwaltungen könnten weiter dezentralisiert werden.

Hinzu kommt, dass sich aus der Digitalisierung der Wirtschaft völlig neue Möglichkeiten für die räumliche Verteilung der wirtschaftlichen Aktivitäten ergeben. Sicher können dadurch nicht alle Mobilitätsprobleme gelöst werden, aber die Kombination von Dezentralisierung und Digitalisierung stellt die konkrete Chance dar, einen negativen Trend umzukehren. Hier muss die nationale Politik mit den Sozialpartnern (da es ja auch um wirtschaftliche Effizienz und Wohlbefinden am Arbeitsplatz geht) und den Gemeinden eine Strategie entwickeln und klare Zielvorgaben formulieren.

Viele Politikbereiche sind involviert: Wirtschaftspolitik, Infrastruktur- und Transportpolitik, Wohnungsbau, Umwelt, Innen- und Kommunalpolitik. Die Gemeindefinanzreform, die aktuell zur Diskussion steht, kann ein maßgeblicher Hebel sein und eine Lenkungsfunktion wahrnehmen, aber besteht dazu der Wille? Es wäre für die künftige Landesentwicklung nicht gut, wenn bei der vorgesehenen Gemeindefinanzreform jetzt parteipolitisches Kalkül vorherrschen würde und nicht eine langfristige Vision für die Gemeinden und das Land.

Parteipolitik überwinden

Die Politik ist gefordert, über ihren parteipolitischen Schatten zu springen und parteiübergreifend den Konsens zu suchen, was die wirtschaftliche Dezentralisierung des Landes betrifft. Schon allein aus dem Grund, dass jede landesplanerische Strategie notgedrungen mehrere Legislaturperioden mit wechselnden Mehrheiten umfasst und das Rad nicht jedes Mal neu erfunden werden kann.

Die Dezentralisierung richtet sich nicht gegen die Hauptstadt. Es ist nicht die Aufgabe von Luxemburg-Stadt, alles auf ihrem Gemeindeterritorium zu vereinen. Berlin als deutsche Hauptstadt beherbergt auch nicht alle Institutionen oder Firmen. Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz in Karlsruhe. Viele große Firmen haben ihre Zentrale in München, während in Frankfurt die Banken angesiedelt sind. Auch das Saarland kann als Beispiel herangezogen werden, Saarbrücken ist die Landeshauptstadt, aber es gibt weitere regionale Ballungszentren.

Die überlegte Dezentralisierung setzt einen tiefgründigen Mentalitätswandel voraus. Ihr Ziel ist, das Zentrum des Landes verkehrsmäßig zu entlasten und neue Perspektiven für die anderen Regionen zu schaffen. Sie ist wirtschaftlich sinnvoll, weil sich viele Lieferungen, Anfahrten zu Baustellen und Dienstfahrten beschleunigen. Vor allem bedeutet überlegte Dezentralisierung, dass sich durch kürzere Distanzen zum Arbeitsplatz zehntausendfach Lebensqualität und Lebenszeit gewinnen lassen. Und das jeden Tag.

Marc Spautz
Abgeordneter und CSV-Parteipräsident

Quelle: Luxemburger Wort (26/11/2016)

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